Kinder als mini Erwachsene

Kinder haben es noch nie einfach gehabt, denn sie sind ungewollt unsere klaren Spiegel für Familie und Gesellschaft.
Ob die Bezugspersonen um ein Kind herum gesunde, stabile Persönlichkeiten mit natürlicher Autorität sind oder nicht, kann man direkt an dem Verhalten des Kindes ablesen, denn Kinder lernen – wie wir wissen – per Nachahmung.

Haben Sie schon auf der Straße beobachtet, dass, was früher eine Selbstverständlichkeit war, nämlich die Kinder an die Hand zu nehmen, immer seltener wird? Ich sehe in der letzten Zeit häufig Eltern, die in der U-Bahn oder auf der Straße vorne gehen (oft telefonierend) während ihre kleinen Kinder einige Meter hinter ihnen verträumt vor sich hin schlendern. Es vergehen manchmal Minuten, bis sie sich nach dem Kind umsehen und verärgert feststellen, dass das Kind nur langsam vorwärts kommt.
Eine nicht weniger gefährliche Aktion ist, wenn Kleinkinder auf der Straße vorauslaufen dürfen. Ist es die Aufgabe des Kindes, das richtige Ziel auszusuchen und für seine eigene Sicherheit zu sorgen? Eher nicht, denn es ist eine zu komplexe Aufgabe, die Lebenserfahrung erfordert, viel mehr als vielleicht einen schönen Stein zu entdecken oder den Vögeln beim Fliegen zuzuschauen.

Es ist wichtig, Eigenständigkeit zu fördern, aber wenn die Aufgaben nicht altersgemäß zugeteilt werden, können Kinder nichts Gutes daraus lernen und sind überfordert. Man sieht leider immer mehr entschlossene „mini Erwachsene“ mit ernstem Blick und immer weniger fröhliche Kinder. Was unterscheidet „mini Erwachsene“ von Kindern? Ihre Umgebung und der Umgang mit ihnen.

Ich höre manchmal wohlgemeinte Fragen von aufgeklärten Eltern an ihre (meistens kleinen) Kinder: Was sollen wir heute zu Abend essen? Soll die Oma am Wochenende zu Besuch kommen? Bestimmt ist es wichtig, Kinder ernst zu nehmen und sie nach ihrer Meinung zu fragen aber es ist nicht die Aufgabe des Kindes Entscheidungen für die Familie zu treffen. Es ist, als ob in machen Familien die Rollen vertauscht wären: Eltern die unsicher und anlehnungsbedürftig sind und Kinder die unbemerkt zu früh zu viel Verantwortung tragen müssen, weil sie in manchen Fällen gar als Partnerersatz gesehen werden.

Soll sich ein Kind mit der richtigen Ernährung für die Familie oder gar mit innenfamiliärer Kontaktpflege auskennen? Natürlich kann und soll ein Kind sagen, ob ihm etwas schmeckt oder ob es die Oma mag, aber die Entscheidungen sollen immer die Erwachsene treffen. Sonst stellt sich bald die Frage: wer führt denn in dieser Familie?

„Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.“ Hat schon J. W. von Goethe gesagt. Aber bitte zuerst Wurzeln und erst dann Flügeln!

Kinder brauchen eine liebevolle Führung im Sinne von Wegweisung und Grenzsetzung um sich auf ihre Entwicklung konzentrieren zu können. Sie brauchen es, um sich auszukennen und um sich sicher zu fühlen.
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Kinder müssen heutzutage immer höhere kognitive Leistungen bringen: im Kindergarten Englisch als erste Fremdsprache und bitte noch vor Schuleintritt sich mit Buchstaben und Zahlen bestens auszukennen! Dagegen ist relativ wenig einzuwenden, denn je früher das Gehirn trainiert wird, umso mehr neuronale Verschaltungen können entstehen, die zu einer höheren Denkfähigkeit beitragen. Aber bei einer einseitigen Förderung wird das Gleichgewicht der Entwicklung gestört und bewirkt Verhaltensstörungen, wenn nicht auch soziale Kompetenzen, sensomotorische Erfahrungen, phantasievolle, kreative Beschäftigungen und das freie Spiel gefördert werden. Einseitige, leistungszentrierte Förderung im Kindesalter erzeugt eine intellektuelle Kälte, die alles andere als gesund ist, denn ohne erworbene Empathie und emotionale Wärme können zwischenmenschliche Beziehungen nicht gut gelingen.

In diesen Zeiten ist bestimmt nicht einfach alles unter einen Hut zu bringen, denn die Bedingungen für einen Zusammenhalt der Familien haben sich enorm verschlechtert. AlleinerzieherInnen, die sich auch um das Familieneinkommen kümmern müssen, stellen keine Ausnahme mehr dar. Oder voll berufstätige Eltern, die am Abend erschöpft nur noch mehr Ruhe haben wollen auf der anderen Seite. Probleme im Alltag, Druck im Beruf und dann will man dem Kind ja auch etwas bieten können.
Eine falsch verstandene moderne Strömung geht von einer gleichberechtigten Partnerschaft zwischen Eltern und Kind aus. Es ist bestimmt viel bequemer, nicht immer alleine Entscheidungen treffen zu müssen, aber kleine Kinder damit zu überfordern ist die falsche Lösung. Ihnen mit zunehmendem Alter einiges an Entscheidungen zuzutrauen ist richtig, aber die eigenen Unsicherheiten und Inkonsequenzen auf die Kinder zu übertragen verursacht längerfristig mehr Probleme in der Familie, als es im Moment vielleicht an Entlastung bringt.

Was lernt ein Kind daraus, wenn es im Kleinkindesalter auf der Straße nicht an die Hand genommen wird?
Was lernt ein Kind daraus, wenn es entscheiden muss, was die Mama kaufen oder wie die Wochenendgestaltung ausfallen soll?
Warum wundern wir uns dann darüber, dass sich „Kinder von heute“ wie Tyrannen verhalten (diplomatisch könnte man sie auch als sehr eigenständig und selbstbewusst bezeichnen), kaum Respekt empfinden und Schwierigkeiten haben, sich in einer Gemeinschaft einzufügen? Die Ursachen dafür sind komplex und auf mehreren Ebenen zu finden. Einige Komponenten sind davon gewiss dort zu suchen, wo das Kind sich nicht gut aufgehoben, sondern alleingelassen gefühlt hat, denn es musste sich durchkämpfen und eigene Regeln und Werte schaffen. Es macht Kinder innerlich einsam und hart, wenn sie zu früh erwachsen werden müssen. Umso bedauerlich, wenn so etwas in unserer Wohlstandsgesellschaft passiert, wo Kinder einen hohen Stellenwert haben. Es ist sinnvoll, die Entwicklungen im Umgang mit Kindern zu beobachten und das Positive aufzugreifen, denn dem Zeitgeist nicht zu folgen ist fast unmöglich.
Ich wünsche uns allen, dass dies zumWohle der Kinder passiert.